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Macht       Ein Grenzfall des Bewusstseins

Franz Rieder •    (Last Update: 22.03.2017)

Wir bestimmen Macht als einen Grenzfall des Bewusstseins. Nicht, dass wir meinen, Macht wäre nicht ubiquitär, im Gegenteil. Als Vorstellung, wie als reale Macht, ist sie das. Wir müssen also fragen: woher kommt diese Vorstellung von Macht? Wie kommt es dazu, dass diese Vorstellung so verankert sein kann in unserem Bewusstsein, dass sie Handlungen motiviert, die andere Menschen das Leben kosten können? Und sie eben als diesen Grenzfall bestimmt, deshalb, weil in ihr und den daraus folgenden Handlungen alle anderen Bewusstseinsformationen außer Kraft gesetzt sind. Gesetz, Moral, Ethik gleichermaßen, schlicht das ganze Reservoir an zivilisatorischen Konditionen.
Und weitere, damit verbundene Fragen, die wir aber ein klein wenig zurückstellen wollen.


Kommen wir zurück zu Leibniz und Kant, dann erinnern wir, dass beide, aber sicherlich prägnanter Kant von einer recht stabilen, strukturellen Einheit des Bewusstseins sprachen, die den sinnlichen wie erfahrungsgeleiteten Wahrnehmungen entzogen ist. An dieser Stelle unterscheiden sich auch beide von den neueren Bestimmungen der Apperzeption, wie sie vor allem die Psychologie unter den Begriff der Kognition fasst.


Kognitionen beinhalten demnach, was Individuen über sich selbst, ihre soziale, materielle, kulturelle etc. Umwelt, ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft denken. Kognitionen können dabei sowohl Emotionen beeinflussen wie Kognitionen umgekehrt auch durch Emotionen beeinflusst werden. Bis hierher wären auch die beiden „Idealisten“ sicherlich noch dergleichen Meinung, dass nämlich Kognitionen all die internen, die geistigen bzw. intellektuellen Vorstellungen sind, die sich ein Individuum von der Welt als seine subjektive Realität und sich selbst, sein individuelles Selbstbild bzw. Selbstbewusstsein konstruieren kann.



Kritik am Radikale Konstruktivismus

Wir benutzen den Ausdruck: konstruieren, um damit die Überleitung zur Theorie des Radikalen Konstruktivismus zu erleichtern, der nichts anderes ist, als die notwendige, erkenntnistheoretische Folge (Theorie) dieser ontologisch wie empirisch unzureichenden Grundannahme. Denn der Radikale Konstruktivismus geht von der Annahme aus, dass Realität für jedes Individuum immer eine Konstruktion aus Sinnesreizen und Gedächtnisleistung darstellt. Er geht also von einem Wahrnehmungsbegriff aus, der so etwas wie Kants transzendentale Apperzeption schlicht nicht kennen bzw. gelten lassen will.
Mit Sinnesreizen nebst Gedächtnisleistung aber kann man eine handlungsleitende Vorstellung wie im Milgram Experiment überhaupt nicht erklären.


Der Radikale Konstruktivismus wollte eine moderne Erkenntnistheorie vorstellen, die aber selbst an Vorstellungen so arm ist, dass wenig damit in unserer Wirklichkeit zu bewerkstelligen ist1. So beschränkte sich der Begründer dieser Erkenntnistheorie darauf, ein zentrales Kernproblem der abendländischen Epistemologie, nämlich „erkennen zu wollen, was außerhalb der Erlebniswelt liegt“, anstatt theoretisch anzugehen auf den Rat, es behend „zu umgehen“ 2.
Wir erwähnen diese Theorie an dieser Stelle aber aus einem guten Grund, denn in der Folge des Radikalen Konstruktivismus gleichsam als dessen innerer Korrektur entwickelte sich das Konzept der Autopoesis, die mit dem Kybernetiker Heinz von Foerster und den Neurobiologen Humberto Maturana und Francisco Varela, sowie Niklas Luhman in enger Verbindung stehen.


Der Begriff der Autopoiesis, meinen wir, bringt uns einen entscheidenden Schritt weiter bei der Auseinandersetzung mit dem Milgram Experiment. Wir können nicht annehmen, dass die Vorstellung von Macht, die die überwiegende Mehrheit der Probanden zu ihren Handlungen geleitet hat, von „aussen“ kommt im Sinne einer situativen Wahrnehmung, denn das ist ersichtlich falsch. Daran ändert auch nichts die Annahme, dass alle Warnung eo ipso subjektitiv ist, denn dann hätten sich nicht so viele Probanden gleich verhalten. Wir können auch nicht darauf referieren, dass es ein Begehren nach Macht, also eine psychologische ‚Tatsache‘, ein ‚Archetypus‘ oder ein ‚Todestrieb‘ sein müsse, der hier wirkt, auch kein Wille zur Macht und kein grausamer Nihilismus.


Was wirkt ist allein schon die Vorstellung von Macht und zwar als eine real existierende Macht, die in einem Wissenschaftler verkörpert ist. Dass die Probanden glauben können, dass Macht von einer Privatperson ausgehen kann, denn das ist sie ja, wobei die Tatsache, dass sie eine Funktion im Wissenschaftsbetrieb einer Universität hat, zunächst einmal keine wirkliche Rolle spielt, liegt daran, dass im öffentlichen, vor allem im wissenschaftlichen Diskurs Privatpersonen Macht zugesprochen wird. Und das ist flach, aber es funktioniert trotzdem. Warum?


Wesentlich ist, dass die Vorstellung von Macht innerhalb eines selbstreferentiellen Systems entsteht, also nicht in einer äußerlichen Realität bestimmt ist wie etwa in einer Kriegssituation, sondern sich durchaus schon als Spielregel eines wissenschaftlichen Experiments entfalten kann. Diese experimentelle Situation entfaltet sich durch eine klare Abgrenzung nach außen, also von einer Welt, außerhalb des wissenschaftlichen Experiments, innerhalb der die Vorstellung von Macht regelkonform wird und damit auch die Handlungen, die die Probanden auf Geheiß der „Lehrer“ ausführen.


Ebenso wesentlich ist, dass die Vorstellung von Macht bzw. der Glaube an eine aktuell vorhande Machtperson in der wissenschaftlich experimentellen Situation als eine Art „Anschlussphantasie“ bzw. als eine Art Anschlusssystem oder -operation funktioniert.  Maturana hat dies in einem anderen Kontext seiner neurobiologischen Forschungen so formuliert. Handlungen (Operationen), die jedes autopoietische System in seiner Umgebung ausführt, werden als wirksame Handlungen verstanden, sofern sie den Fortbestand des Systems in seiner Umgebung erlauben und es damit weiter „dort seine Welt hervorbringt“3.

Jene Probanden, die die Laborsituation verlassen haben, imponieren nicht so sehr in ihrer Negativität bzw. Weigerung, solche Handlungen auszuführen als in ihrem ‚Wissen‘, dass Macht nie privat ist. Jedenfalls nicht in den westlichen Industriegesellschaften, deren politischen Systeme auf Demokratie basieren. Was also Macht ist und wie eine gänzlich davon verschiedene Vorstellung in ein Bewusstsein kommen kann, in das Bewusstsein von vielen Menschen und dort Denken, Empfinden und Handeln bestimmt, ist also eine entscheidende Frage.



Macht bewusst


Im Unterschied zum Milgram Experiment ist Macht keine private, sondern immer und allein eine politische Bestimmung. Macht ist in ihrer politischen Bestimmung ebenso ein Grenzfall wie im Bewusstsein des einzelnen Menschen. Der einzelne Mensch wie auch private Institutionen und privatrechtliche Unternehmen üben keine Macht aus. Können das nicht. Im Diskurs der Neuzeit aber wird privaten Personen wie Einrichtungen durchaus Macht zugesprochen.


Wissenschaftlich hat sicherlich die soziologische Analyse des Machtbegriffs durch Max Weber den größten und nachhaltigsten Einfluss auf das Denken unterschiedlichster Akteure und Gruppen der Gesellschaft ausgeübt. Wir meinen, Weber hat weder den Unterschied zwischen Macht und Einfluss, den er als „fließend“ bezeichnet, richtig herausgearbeitet, noch hat er die Folgen, die dieser undifferenzierte Machtbegriff nach sich zieht, bedacht, da Weber selbst in seiner unpolitischen Betrachtung einem historischen Prozess aufgesessen ist, der Macht nachhaltig diskursiv soziologisiert hat. An den Tatsachen, was Macht ist, änderte das nichts.


Der Unterschied zwischen Macht und der privaten Vorstellung von Macht ist so fundamental, dass es allein schon wegen einer kritischen Position gegenüber den „wahren“, den politischen Machtträgern und Institutionen geboten ist, ihn klar herauszuarbeiten und begrifflich scharf getrennt zwischen politischer und privater Macht diskursiv festzuhalten. Wir werden aber diesem Unterschied an anderer Stelle eine eingehendere Analyse widmen, wollen hier noch eine Weile im Kontext des Milgram Experiments bleiben.


Wir haben eben den Gedanken der Anschluss-Operation aus den Bestimmungen des Begriffs der Autopoiesis angerissen, um den Gedanken der Selbststeuerung von Systemen, wie er in der Kybernetik gedacht wird, auf unsere sozialen Systeme zu übertragen. Macht ist heute, sei sie politisch oder auch privat vorgestellt, ohne den Gedanken der Selbststeuerung von Machtsystemen gar nicht mehr zu denken. Bedacht werden dabei aber sollte unbedingt, dass Anschluss-Operationen formal funktionieren wie komplementäre Systeme.

Exkurs:

Um ein Bild zur Verdeutlichung zu bemühen, stellen wir uns Machtsystem vor wie ein Feld von Spielkarten, von denen je zwei (es könnten numerisch auch mehr sein) übereinander liegen. Die unteren Karten zeigen ihr (gleiches) Motiv (Macht) nach oben, die oberen, zudeckenden Karten ihre (Macht-) Motive (die ganze Motivserie, angefangen von familialen bis zu privatrechtlich-institutionellen Gruppen) nach unten, also deren Rückseiten. Welche Wirklichkeit im Sinne einer Vorstellung von Macht nun auch aufgedeckt wird, in unserem Beispiel die Wissenschaft, bildet sie stets eine, ihre eigene Differenz zur allen anderen Machtformen, ohne von der Macht als solcher im systemischen Sinne sich je ganz lösen zu können.
Und jede einzelne, betrachtet als ein soziales, autopoietisches System, funktioniert somit als Regel- und Steuerungsmechanismen von Kommunikation und Interaktion innerhalb ihrer sozialen Grenzen, wie etwa in Milieus, oder privaten und institutionellen Grenzen.


Heute sprechen wir von Macht im Zusammenhang mit CEO- und allen anderen Entscheider-Funktionen innerhalb von Unternehmen wie Banken oder der Automobilindustrie. Ohne späteres zu sehr vorweg zu nehmen, sehen wir tagtäglich kolportiert, dass Banker und Bosse felsenfest der Meinung sind, Macht zu haben und auch auszuüben – wir sehen parallel dazu auch, dass andere Entscheidungsträger ganz und gar anderer Meinung dazu sind.


Die „wahre“ Machtfülle der Deutschen Bank etwa wie der großen Energiekonzerne z.B. ist binnen 2-3 Jahren jüngster Vergangenheit aufgrund politischer Entscheidungen auf ein schier jämmerliches Maß, gemessen am „Vorher“, als sie noch die Deutschland AG war, geschrumpft. Andere Unternehmen mit großer Zukunft hat es gleich ganz erwischt und von dem Feld der Macht vollständig heruntergespült. Im privaten, vor allem im familialen Zusammenhang, spielt die Vorstellung von Macht vor allem zwischen Mann und Frau eine ganz besondere Rolle, vor allem in religionsdominanten, kulturellen Kontexten – von all‘ dem später mehr.


Wir haben gesehen, dass im Milgram Experiment die Vorstellung von Macht sich innerhalb eines geschlossenen Systems selbstreferentiell entfaltet, also nur auf sich selbst verweist und nicht auf ein Außen, eine andere, als ihre eigene Wirklichkeit. Sie referiert auf einen Diskurs der Macht, der als Handlungsanweisung und Sanktionsmechanismus funktioniert. Beide, Anweisung und Drohung sind allein in der wissenschaftsimmanenten Situation konstitutiv und definieren zugleich auch die Grenzen, als das laufende Experiment unbedingt zum Abschluss gebracht werden muss.


Autopoietische System kontrollieren immer ihre Operationen im Verhältnis zu deren Resultaten, wobei kein bestimmtes Resultat konstitutiv ist, also weder durch Motivation noch durch etwas anderes definiert werden muss. Wichtig ist, dass ein Resultat einer Operation die Anschlussfähigkeit zu weiteren Operationen sichert. Damit solche Systeme reibungslos funktionieren, müssen sie ihre Strukturen selbst erfinden, oder wie Luhmann schreibt:
„Autopoietische Systeme können ihre Strukturen nicht als Fertigprodukte aus ihrer Umwelt beziehen. Sie müssen sie durch ihre eigenen Operationen aufbauen und das erinnern – oder vergessen.“4

Insofern autopoietische System sich selbst erfinden, ohne Rekurs auf eine andere, als ihre eigene Wirklichkeit, repräsentieren sie auch nicht die Welt, wie sie etwa im Augenblick der Operation existiert, und so sind auch die Einzelwissenschaften wie die sog. Branchenführer, Monopolisten und Oligopole in der Ökonomie der westlichen Staaten prädestiniert, autopoietsche System zur Perfektion zu bringen (im nächsten Kapitel werden wir näher darauf eingehen).


Menschen, die wie im Milgram Experiment, andere Menschen der Wissenschaft wegen durch Stromstöße zu Tode zu bringen in der Lage sind, sind also weder dadurch zu begreifen, dass sie einen psychischen Defekt, eine Psychopathie haben, denn so etwas hatten die Probanden offensichtlich ja nicht. Sie folgen weder einer frühkindlichen Prägung, noch einem apriori vorhandenen autoritären Charakter oder Ähnlichem.
Wir finden in ihnen keine Form der Identität, die dieses Verhalten im Experiment begründen könnte. Der Eindruck psychopathischen Verhaltens ist also nicht Ursache sondern eine Folge eines bestimmten Verhaltens, bestimmt durch die Operation und Interaktion innerhalb selbstreferenzieller, autopoietischer Systeme.


Sicherlich kann man in gewisser Hinsicht auf den sog. normativen sozialen Einfluss verweisen, der eine Rolle spielte, und insofern die Versuchssituation für die Probanden neu war und deshalb kein erlerntes Handlungsmuster existierte auch einen informativen sozialen Einfluss annehmen. Bleiben wir bei einer psychologischen Betrachtung, dann darf auch der Aspekt der sog. Dissonanzauflösung5 hier vorgebracht werden, nur darf man dann die experimentelle Situation nicht als eine Grenzsituation betrachten, sondern als eine graduell abweichende Situation von alltäglichen Verhaltensmustern, wie sie in Familie und Beruf etc. auch vorkommen kann.
Dann entspricht die kontinuierliche Steigerung der „Bestrafungsbereitschaft“ einer Verschiebung des Verhaltens sukzessive in Richtung außerordentlicher Verhaltensweisen.
In einzelne Teilaspekte zerlegt, erhellen solche psychologische Betrachtungen durchaus auch, dass das Verhalten der Probanden mehr durch die Veränderung situationaler Variablen, etwa der Distanz zum Schüler oder der Anwesenheit des Versuchsleiters, beeinflusst wird und weniger durch das Vorliegen einer charakterlichen Disposition.


Bis heute gilt die wissenschaftliche Hypothese des Autoritätsgehorsam theoretisch als nur unzureichend geklärt. Obwohl Milgram eine Persönlichkeitsbasis für Autoritätsgehorsam und Verweigerung vermutete, konnte er diese durch sein Experiment nicht belegen.
Auch die soziologischen Schlüsse lassen kaum Erhellendes aufkeimen. Wäre die sog. Sozialisation konstitutiv, also das Erlernen von Gehorsamkeit und Unterordnung bei gleichzeitiger positiver Sanktionierung von Folgsamkeit und Unterordnung in familialen, institutionellen und anderen sozialen Systemen, dann bleibt die Frage, warum der Großteil der Jugendlichen sich in der Phase der Pubertät gegen alles und jeden auflehnt und wo die Bübchen und Mädchen denn den „Fall“ der Bestrafungsbereitschaft positiv sanktioniert gelernt haben sollen?


Solche Erklärungsversuche gehen dramatisch weit am „Fall“ vorbei. Ebenso wie Erich Fromms Versuch, den Grund für die Bereitschaft, dem Versuchsleiter zu gehorchen, im besonders hohen Ansehen, das die Wissenschaft als Institution in Amerika besitzt, zu sehen.
Oder gar mit evolutionsbiologischem Transfer sein wissenschaftliches Heil zu suchen, das immer dann aus den nämlichen Labors herauslugt, wenn intellektuell darin nichts mehr los ist. So sieht der US-amerikanische Evolutionsbiologe Marc Hauser in dem Experiment eine Bestätigung seiner, in dem Buch Moral Minds dargelegten Theorie, dass das menschliche Gehirn evolutionär veranlagte Kapazitäten besitzt, Autorität zu folgen, wie sie auch bei Primaten zu finden sind; na dann ist ja alles klar.
Dann hatten die Probanden also zuviel vom Affen oder zeigten ihr rosarotes Hinterteil wohlfeil jedem, der ein hohes Ansehen hat, was ja auf dasselbe herausläuft.



Machtvorstellung

Machtvorstellungen sind real. So real wie das erotische Versprechen in einer Varieté-Show oder das gezähmte Verhalten wilder Tiere in einer Zirkusvorstellung. Was im familialen oder beruflichen Kontext sich zeigt, ist vom Varieté oder Zirkus nicht weit entfernt. Nur leider ernster.


Das Milgram Experiment funktioniert wie eine Varieté-Vorstellung mit eigener Bühne im Wissenschaftsbetrieb, eigenen Regeln und einem Versprechen, dass die eigene Machtvorstellung der Probanden nicht nur der Wirklichkeit in dieser Situation entspricht, sondern dass die Wirklichkeit dieser Vorstellung auch in dieser besonderen Situation die einzig wahre bzw. richtige ist.


Alles in der Situation erschien plausibel. Gleichwohl alle Versuchspersonen im Originalversuch einen aufgewühlten Gemütszustand zeigten, Gewissenskonflikte hatten, aufgeregt waren – was sollte man denn sonst erwarten? –  dominierte die extreme Bereitschaft von erwachsenen Menschen, einer vorgestellten Autorität fast beliebig weit zu folgen, zeigte das Experiment, dass die meisten Versuchspersonen durch die Situation veranlasst wurden, sich an den Anweisungen des Versuchsleiters und nicht an den durchaus hörbaren Schmerzen der Opfer zu orientieren.


„Ich beobachtete einen reifen und anfänglich selbstsicher auftretenden Geschäftsmann (Lehrer, d. Verf.), der das Labor lächelnd und voller Selbstvertrauen betrat. Innerhalb von 20 Minuten war aus ihm ein zuckendes, stotterndes Wrack geworden, das sich rasch einem Nervenzusammenbruch näherte. Er zupfte dauernd an seinem Ohrläppchen herum und rang die Hände. An einem Punkt schlug er sich mit der Faust gegen die Stirn und murmelte: ‚Oh Gott lass uns aufhören‘. Und doch reagierte er weiterhin auf jedes Wort des Versuchsleiters und gehorchte bis zum Schluss.“6

Offensichtlich werden hier weder Gefühle durch Gedanken, noch umgekehrt Gedanken durch Emotionen korrigiert. Erhebliche Zweifel an der These einer Dissonanzauflösung dürften hier auch aufkommen, wie es auch nicht weiterhilft, die Situation wie einen Stresstest der Persönlichkeit zu behandeln und die menschliche Persönlichkeit bzw. deren Subjektivität graduell zwischen einem Zustand der Autonomie, in dem das Individuum sich als für seine Handlungen verantwortlich erlebt, und einem sog. „Agens-Zustand“ (nicht-intentionale Teilhabe) zu verorten, in den es durch den Eintritt in ein Autoritätssystem versetzt wird und nicht mehr aufgrund eigener Zielsetzungen handelt, sondern zum Instrument der Intentionen anderer wird.


An allen diesen Betrachtungsweisen ist eins defizitär, nämlich die Annahme, dass menschliches Handeln zuvörderst und immer vom Menschen selbst ausgeht und nicht geradezu in umgekehrter Betrachtung, das menschliche Handeln sich aus einer bestimmten Situation ergibt, die wir hier im Beispiel mit einer autopoietischen Situation umschrieben haben.


Die Folgen solcher Betrachtungsweise sind weitreichend. Wir sind es gewohnt, und dies mag eins der Spezifika neuzeitlichen Denkens sein, Handlungen jeweils den handelnden Personen zuzuschreiben. Und zwar derart, dass Subjektivität fundamental bzw. ontologisch als autonomes, selbstbestimmtes und mehr noch als selbstverantwortetes Denken und Handeln begriffen wird.
Doch damit kommen wir allein schon beim Milgram Experiment nicht wirklich weiter. In dieser Situation scheint ja der Transfer von Verantwortung von den Versuchspersonen auf den Versuchsleiter nicht ganz unbegründet zu sein, aber rechtfertigt das schon das Verhalten der Versuchspersonen?; wohl mitnichten.


Selbst in der Extremsituation unter „Kriegsrecht“, was ja nichts anderes definiert als die gänzliche Übertragung von Entscheidung und Verantwortung auf die Machtrepräsentanten, ist die Frage nicht so einfach zu beantworten. Beispiele dafür gibt es genug aus der Zeit des deutschen Nationalsozialismus bis hin zu Abu Ghraib und der Umgang mit Kriegsverbrechen, wie im Vietnamkrieg geschehen, und mit dem Massaker von Mỹ Lai verbunden, war ja auch einer der (Neben-) Gründe, die Milgram zu seinem Experiment bewogen haben.


Da, wo wir allenthalben die Vorstellung von Macht im privaten Leben feststellen, geht es nicht um die gleiche Art von Extremsituationen wie im Zusammenhang mit politischer Macht. Aber eine Extremsituation ist auch dort gegeben. Deshalb müssen wir auch weiterhin den Komplex von Machtvorstellung, Entscheidung und Verantwortung stets auf’s Neue und ’systembezogen‘ reflektieren. Und sieht man genauer hin, dann ist selbst das berühmte, vielleicht sogar das ins 19. und 20. Jh. wegweisendste Kapital aus Hegels Phänomenologie des Geistes: Herrschaft und Knechtschaft, eine Machtvorstellung, die im System des Hegelschen Idealismus wie in einem autopoietischen System funktioniert.


Beide, Herr und Knecht, sind keine Träger wirklicher Macht, auch wenn Hegel dies nicht immer klar bestimmt. Zwar erst im zweiten Teil des Kapitels ausgeführt (durchaus nicht untypisch für Hegel),erfolgt die Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft grundsätzlich aus einem Kampf um Leben und Tod. Diese von Hegel sowohl als aus einer tatsächlichen wie auch als ideelle Extremsituation verstandene Dialektik entwickelt sich als eben ein interaktiver dialektischer Prozess von Machtvorstellungen, der dann das tatsächliche Verhältnis von Herr und Knecht vorstellt.


Opfer seiner Grundannahme, die Hegel im ersten Teil des Kapitels entwickelt hat, indem beide Herr und Knecht gleichsam als Voraussetzung ihrer selbst als eine dialektische Bewegung des Selbstbewusstseins bestimmt werden, mündet zwangsläufig auch am Ende des Kapitels die als asymmetrisch angelegte Beziehung der beiden in einem durchaus symmetrischen Nullsummenspiel des Selbstbewusstseins, das sich in beiden repräsentiert.


So beginnt Hegel seine Bestimmung von Herrschaft und Knechtschaft als Momente des Selbstbewusstseins, in dem beide Momente an und für sich durch Anerkennung des jeweils Anderen zur Einheit finden. Selbstbewusstsein und Subjektivität werden so als bereits genuin intersubjektiv entwickelt, was Hegel gegenüber Fichtes Versuch deutlich in Vorteil bringt. Hegel entwickelt aus einem  asymmetrischen Anerkennungsverhältnis die symmetrische Anerkennungsphilosophie Fichtes kritisch weiter, verliert aber im dialektischen Prozess der Aufhebung jener Asymmetrie in einer vorgestellten Machtsymmetrie von Herr und Knecht die Triebfeder seiner Dialektik selbst aus dem Blick. Denn Macht ist und bleibt, wie wir dargelegt haben, immer asymmetrisch.


Hegel zufolge sind Herrschaft und Knechtschaft interdependent. Der Knecht ist demnach zwar Knecht kraft seiner erzwungenen Unterordnung, jedoch ist der Status des Herrn von der Anerkennung seiner Herrschaft durch den Knecht abhängig. Der Herr bezieht sein Selbstbewusstsein aus der Tatsache anerkannt zu werden; dafür, dass er sein Leben riskiert hat. Er arbeitet nicht. Die Asymmetrie ist hier schnell erkennbar und bezieht sich auf das Moment der Arbeit, verkörpert im Knecht, in der Entwicklung des Selbstbewussteins.


Der Knecht arbeitet für den Herrn. Er bezieht sein Selbstbewusstsein im Laufe der Zeit nicht mehr nur aus der Tatsache, für jemand anderen zu sein und zu arbeiten, sondern durch seine Arbeit gelangt er nach Hegel zur Herrschaft über die Natur. Demnach bestünde die Machtsymmetrie offensichtlich darin, dass der Herr sich selner Macht über den Knecht bewusst ist, wie der Knecht glaubt, durch seine Arbeit für den Boss mit der Phantasie belohnt zu werden, Herrschaft über die Natur zu erreichen.


Ohne auf die inhaltlichen Details der Hegelschen Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft eingehen zu wollen, können wir eine fundamentale Erkenntnis mitnehmen, die über eben dieses Kapitel Hegelscher Philosophie in die kritische Sozialphilosophie von Karl Marx und später auch in die Prämissen der Frankfurter Schule eingegangen ist.
Wenn Hegel die Dialektik von Herr und Knecht als Quelle des Selbstbewusstseins, mithin der Identität betrachtet, und die Elemente des Selbstbewusstseins als „Für-sich-sein“ (Herr) und „Für-andere-sein“ (Knecht) bestimmt, dann übernimmt Marx eben dieses dialektische Denken aus einem asymmetrischen Verhältnis in seine politische Ökonomie.
Bei Marx wird der Prozess der gesellschaftlichen Entwicklung aus dem Gegensatz von Kapital und Arbeit getrieben, dessen Identität – im Sinne Hegelscher Dialektik der Aufhebung aller asymmetrischen bzw. widersprüchlich bis gegensätzlichen Bestimmungen – sich im Sozialismus verwirklicht, vorgestellt als politische Ökonomie, ohne Privateigentum generell und speziell an Produktionsmitteln bzw. als Vergesellschaftung von Produktivkapital.


Dabei bleibt es sich gleich, ob Herr und Knecht aus ihren jeweiligen Machtvorstellungen dem anderen gegenüber getrieben sind, also direkt intentional, was nicht gleichbedeutend sein muss mit ‚bewusst‘, oder ob in einer Art nicht-intentionaler Dialektik beide voneinander irgendwie abhängen. Höchst zweifelhaft aber ist, dass die Komplexität geldwerter Arbeit innerhalb einer bestimmten politischen Ökonomie nur schwerlich auf einen, ganz gleich welchen Grundwiderspruch, sei er Herrschaft und Knechtschaft oder Arbeit und Kapital abstrahiert werden kann, ohne die wirklichen gesellschaftspolitischen Verhältnisse, in denen menschliche Arbeit im Sinne der Ökonomie sich vollzieht, aus dem Blick zu verlieren.


Macht besessen

„Das Leben, doch nicht den Ring!“ So versucht Alberich im Ring des Nibelungen (Wagner) seine Macht (Ring) zu retten, so weit, dass er sein Leben dafür bereit ist, auf’s Spiel zu setzen. Was bin ich anderes als ein beliebiger Spielball anderer Mächte, ohne eigene, und sei es nur die Vorstellung, eine zu besitzen.


Diese individuelle bzw. private (und privatrechtliche) Machtvorstellung als Machtbasis hat eine lange Tradition, die auf Aristoteles zurück geht, der, wie später Hegel, den Begriff der Macht im Rahmen einer übergreifenden Theorie von Herrschaft und Knechtschaft entwickelt. Historisch vor Aristoteles entwickelte sich ein anderer Machtbegriff aus der Frage nach einem „inneren“ Wesen von Recht wie in der Sophistik7 oder, wie in Athen und wenig verwunderlich aus einer politischen Betrachtung, in der eine reine, nicht weiter zu legitimierende Machtposition einer Großmacht das Recht als Gleichheit der Kräfte politisch definiert und militärisch garantiert.


Es legt zwangsläufig dort schon die Wege des Diskurses fest, wenn Macht aus der menschlichen Natur bestimmt wird, geht man den Weg weiter über den „Willen“ und seinen verschiedenen Erscheinungen oder sogar über den Weg einer metaphysischen Betrachtung wie etwa bei Hegel und den im 20. Jh. dann schier inflationär entstandenen Machtvorstellungen und den damit verbundenen Formen der Macht, wie wir schon in diesem Kapitel unter: Macht ein Ende…dargelegt haben.


Nietzsches „Willen zur Macht“ ist dabei ebenso schon eine Transformation transpersonaler Macht in eine soziale Matrix, in der das unersättliche Verlangen nach Ausübung von Macht den Einzelnen mit der Gesamtheit aller, also dem Allgemeinen als Wesenszug des Einzelnen, Individuellen zusammen bringt. Nach Nietzsche ist der Wille zur Macht ein schöpferischer Trieb und so gedacht das elementare Motiv alles Lebendigen, das jenseits jeder moralischen Wertung steht, ja dessen „Nein“, dessen Negation ist.


Diese Form von Machtbesessenheit ist vorgestellt als schöpferischer Trieb, der gegen sein „Bewusstsein“, sei es individuell oder sozial als Moral und Gesetz vorgestellt ist, kämpft. Uns interessiert aber mehr der Aspekt, dass Macht in einer fließenden Beziehung zwischen einer individuellen und einer allgemeinen Bestimmung steht, also den einzelnen wie alle Menschen auszeichnet.
In Fortführung des aristotelischen Begriffs der Macht, hat dies Hegel wohl am konsequentesten niederlegt, indem er seine Begriffstheorie mit seiner Staatstheorie nahtlos verbunden hat. Die begriffliche Natur alles Seienden findet so ihre Entsprechung und Engführung mit dem „Staat“, als im Begriff die Machtvorstellung als die Macht des Allgemeinen gegenüber allen seinen untergeordneten Momenten bestimmt wird wie im § 261 der Grundlinien der Philosophie des Rechts8 der Staat als die allgemeine und zugleich übergeordnete und sichernde Macht des Rechts gegenüber dem individuellen Wohl des Einzelnen gestellt wird.


Der wesentliche Aspekt dabei ist u.E. die fatale Engführung von individueller und allgemeiner Machtvorstellungen, die sich in der Geschichte des Abendlandes ubiquitär durchgesetzt hat. Selbst in der Abgrenzung von politischer Herrschaft zur Despotie, wie sie Aristoteles vornimmt, in der am Ende eine Herrschaft von Freien über Freie gedacht ist, fast niedlich als unbestimmter Prozess oder als ein Spiel der wechselseitigen Ablösung von Herrschen und Beherrschtwerden erträumt wird, schwingt die Vorstellung der Gleichheit von individueller und politischer Macht durch den begrifflich dialektischen wie durch den historisch politischen Prozess deutlich erkennbar mit. Und dieser gilt unser Augenmerk.


So ist auch bei Hegel der Machtbegriff in einer Art Intersubjektivität angelegt, also eines Verhältnisses zum Anderen, das als Herrschaft und Knechtschaft sich entfaltet und politisch am Ende als die Macht der Freiheit, wenn die Endlichkeit der Macht als ausgeübte Gewalt sich im Absoluten vollends selbst negiert hat. Die Selbstnegation von politischer Herrschaft ist ein ebenso schöner Traum wie das kindliche Wechselspiel von Herrschen und Beherrschtwerden, worin wir aber nicht die zentrale Problematik dieser dialektischen Bestimmung von Macht erkennen.


Wohin die Engführung von politischer Macht und einer, den einzelnen Menschen scheinbar innewohnenden, individuellen Machtdisposition hinführen kann, durfte ja gerade im Verlauf des 20. Jh. erlebt werden. Gerade an den großen Ideologien der Macht kann man sehen, wie etwa in der ‚Diktatur des Proletariats‘ geradezu die politische Macht unter dem Denkmantel der sozialen Gleichstellung aller Menschen sich als das Organisationsprinzip ihrer Selbstaufhebung in Gewalt und Unterdrückung von jeder unteilbaren Freiheit entfaltet.


Scheinbar botmäßig an der ökonomischen Gleichheit, also an der Idee des sozialistischen Wohlstandes einer klassenlosen Gesellschaft, ohne Privateigentum und privatem Produktivkapital bedingungslos orientiert, zeitigte die Idee einer gleichmäßigen Machtverteilung in den kommunistischen Gesellschaften am Ende die absolute politische Macht auf der einen und die Auflösung jeder individuellen Freiheit auf der anderen Seite. Der Traum einer klassenlosen Gesellschaft, in der es keinen Staat mehr gibt und die soziale Gleichstellung aller Menschen erreicht ist, also einer Gesellschaft im absoluten Machtvakuum, ist nurmehr kaum noch vorstellbar, angesichts des Desasters dieser unsinnigen Idee.



Anmerkungen:

1 Die Kernaussage des Radikalen Konstruktivismus, dass eine Wahrnehmung kein Abbild einer bewusstseinsunabhängigen Realität liefert, hätten Platon und Aristoteles schon unterschrieben.
Und insofern Realität für jedes Individuum immer eine Konstruktion aus Sinnesreizen und Gedächtnisleistung darstellt und deshalb Objektivität im Sinne einer Übereinstimmung von wahrgenommenem (konstruiertem) Bild und Realität unmöglich ist, also jede Wahrnehmung vollständig subjektiv ist, worin die Radikalität (Kompromisslosigkeit) des Radikalen Konstruktivismus ja besteht, erklärt dann doch recht wenig an Wirklichkeit, wenn man die Wirklichkeit der Ideen mit hinzu nimmt.

2 Ernst von Glasersfeld: Konstruktion der Wirklichkeit und der Begriff der Objektivität. In: Heinz von Foerster u. a.: Einführung in den Konstruktivismus; Veröffentlichungen der Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung, 5; München: Piper, 1992, S. 29.

3 Humberto R. Maturana, Francisco J. Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des Erkennens. Goldmann, München 1987, S. 36.

4 Luhmann: Soziologische Aufklärung 6. Die Soziologie und der Mensch, Wiesbaden 3. A. 2008, S. 13.

5 Kognitive Dissonanz bezeichnet in der (Sozial-)Psychologie einen als unangenehm empfundenen Gefühlszustand, der dadurch entsteht, dass ein Mensch mehrere Kognitionen hat – Wahrnehmungen, Gedanken, Meinungen, Einstellungen, Wünsche oder Absichten –, die nicht miteinander vereinbar sind.(Wikipedia)

6 Steven Schwartz: Wie Pawlow auf den Hund kam. München 1993

7 Thukydides im Melierdialog

8 G.W.F. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Naturrecht und Staatswissenschaft, herausgegeben und eingeleitet von Helmut Reichelt, Ullstein, Frankfurt am Main (1972)


Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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